Paul-Ehrlich-Institut

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Ak­tu­el­le In­for­ma­tio­nen zu Nar­ko­lep­sie im zeit­li­chen Zu­sam­men­hang mit A/H1N1-In­flu­enzaimp­fung

Derzeitiger Erkenntnistand in Kürze

Mit der Information der schwedischen Arzneimittelbehörde Läkemedelsverket am 18. August 2010 über Fälle einer Narkolepsie bei Kindern und Jugendlichen nach Pandemrix- Impfung wurde erstmals die Aufmerksamkeit auf einen möglichen Zusammenhang zwischen diesem Impfstoff und der erstmaligen Entwicklung einer Narkolepsie gelenkt.

Neben den Ergebnissen aus Schweden weisen die Ergebnisse weiterer retrospektiver epidemiologischer Studien in Finnland, Irland, Frankreich und England auf ein Narkolepsie-Risiko bei Kindern und Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen durch Pandemrix hin. In Frankreich wurde ein Signal auch bei Erwachsenen detektiert, das durch weitere Untersuchungen bestätigt werden muss.

Der Human-Impfstoff Pandemrix wurde im September 2009 in der EU zum Schutz gegen die durch den Influenzavirusstamm H1N1A/v verursachte Virusgrippe zugelassen. Während der Influenza-Pandemie in 2009/2010 wurden etwa 30,8 Millionen Menschen in der EU mit Pandemrix geimpft. Zurzeit wird der Impfstoff in der EU nicht mehr eingesetzt. Eine Empfehlung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA vom Juli 2011, die Anwendung bei Personen unter 20 Jahren einzuschränken, hat für Deutschland keine Bedeutung, da die Ständige Impfkommission STIKO zum Schutz vor der (saisonalen) Virusgrippe nicht Pandemrix, sondern einen trivalenten Impfstoff empfiehlt (siehe 'Regulatorische Maßnahmen').

Narkolepsie-Verdachtsfallmeldungen beim Paul-Ehrlich-Institut (Stand Oktober 2016)

Bis Ende Oktober 2016 erhielt das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) aus Deutschland im Rahmen der Spontanerfassung 86 Meldungen nach Infektions­schutzgesetz (IfSG) von Narkolepsie-Verdachtsfällen (44 weibliche und 42 männliche Patienten) nach der Pandemrix-Impfung. Betroffen sind 37 Kinder und Jugendliche im Alter von sieben bis 17 Jahren (19 weibliche, 18 männliche Patienten) und 48 Erwachsene (24 Frauen, 24 Männer). Bei einer Meldung ist unklar, ob das 18. Lebensjahr vollendet war.

Vor dem Hintergrund des in Schweden und Finnland beobachteten Signals waren diese Meldungen der Anlass für weitere pharmako-epidemiologische Untersuchungen in Deutschland.

Europäische Studien

Inzwischen liegen die Ergebnisse mehrerer europäischer epidemiologischer Studien zur potenziellen Assoziation zwischen Pandemrix und Narkolepsie vor [1-18].

Zusammenfassend weisen diese auf ein signifikant erhöhtes Risiko für Narkolepsie nach Pandemrix-Impfung bei Kindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen verglichen mit gleichaltrigen Nichtgeimpften hin.

Aufgrund der Ergebnisse der epidemiologischen Studien muss man von 2−6 zusätzlichen (zusätzlich zu den Fällen, die natürlicherweise auftreten) Fällen von Narkolepsie pro 100.000 verimpften Dosen Pandemrix bei Kindern und Jugendlichen und von 0,6−1 zusätzlichen Fällen pro 100.000 verimpften Dosen Pandemrix bei Erwachsenen ausgehen.

Erkrankung

Die Narkolepsie ist eine seltene Schlaf-Wach-Störung, die durch die Kernsymptome Tagesschläfrigkeit und Kataplexie (plötzlicher Verlust des Muskeltonus durch starke Gefühle) gekennzeichnet ist. Üblicherweise betrifft die Erkrankung 26 bis 50 von 100.000 Menschen. Eine 2002 durchgeführte prospektive Multicenterstudie der AG Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) und der Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland (ESPED) [19][20], hat in Deutschland eine Inzidenz für Narkolepsie von 0,12 pro 100.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren pro Jahr ermittelt, wobei möglicherweise nicht alle Fälle erfasst wurden, da sich die Erhebung lediglich auf Kinderkliniken bezog.

Die Ursache der Erkrankung ist ungeklärt. In wenigen Fällen tritt Narkolepsie nach Schädigung bestimmter Hirnregionen (Hirnstamm und Dienzephalon) auf. Es werden multifaktorielle Ursachen mit Störungen im cholinergen und noradrenergen System sowie eine Verminderung hypocretinhaltiger Neurone im dorsolateralen Hypothalamus angenommen. 98 Prozent der kaukasischen Narkolepsiepatienten haben den HLA-DRB1*1501-DQB1*0602-Typ. In der Normalbevölkerung beträgt der Anteil dieses HLA-Typs 25 bis 35 Prozent [21]. Dieser HLA-Typ weist damit eine hohe Sensitivität, jedoch geringe Spezifität auf. Eine genomweite Assoziationsstudie lässt weitere genetische Polymorphismen vermuten [22]. In jüngerer Zeit werden neben anderen Faktoren auch vermehrt Autoimmunprozesse als Ursachen diskutiert [23][24][25]. Mittels regulatorischer Maßnahmen (Einschränkung des Anwendungsbereichs) wurde auf die Erkenntnisse aus epidemiologischen Studien zu Pandemrix-Impfung und Narkolepsie reagiert.

Pathomechanismus

Aktivierung der Transkription des Gens des Transkriptionsfaktors Nrf2 nach α-Tocopherol-Zugabe

In eigenen Forschungsarbeiten haben Wissenschaftler des Paul-Ehrlich-Instituts eine Aktivierung der Transkription des Gens des Transkriptionsfaktors Nrf2 nach α-Tocopherol-Zugabe zu humanen neuronalen Zellen in vitro entdeckt. α-Tocopherol oder Vitamin E ist, ein Bestandteil von AS03, dem im Impfstoff Pandemrix vorhandenen Immunverstärker (Adjuvans) [26]. Die Nrf2-Aktivierung ging mit einer Erhöhung der Bildung von Hypocretin und einer Untereinheit des Proteasoms in diesen Zellen einher. Weiterhin wurde die Sensitivität der α-Tocopherol behandelten neuronalen Zellen gegenüber den Zelltod (Apoptose) verursachenden Stimuli erhöht. Dies steht im Einklang mit der derzeit als Ursache für eine Narkolepsie diskutierten Annahme, dass bestimmte neuronale Zellen im Gehirn Betroffener zugrunde gehen. Unbekannt ist jedoch, ob eine Zelltod-Sensibilisierung von für die Entwicklung einer Narkolepsie relevanten neuronalen Zellen durch α-Tocopherol im Gehirn nach Impfung in vivo stattfindet. In-vivo-Ergebnisse sind für weitergehende Schlussfolgerungen erforderlich.

Immunantwort gegen Influenza-Nucleoprotein

In einer multinationalen experimentellen Untersuchung zum Pathomechanismus [27][28] untersuchte eine Gruppe um Soheil Ahmed folgendes:

Die Schlafstörung Narkolepsie ist assoziiert mit dem HLA-DQB1*0602-Haplotyp, der Impfung mit Pandemrix (ein AS03-adjuvantierter pandemischer Influenzaimpfstoff) und möglichweise mit der Infektion durch den Influenza-Virusstamm A/H1N1pmd, der für die letzte Influenzapandemie im Herbst/Winter 2009/2010 verantwortlich war. Im Gegensatz dazu wurden nur sehr wenige Fälle nach Impfung mit Focetria gemeldet (ein auf andere Weise hergestellter und anders adjuvantierter pandemischer Influenzaimpfstoff). Unterschiede zwischen diesen beiden Impfstoffen könnten daher die Assoziation zwischen der Impfung mit Pandemrix und Narkolepsie erklären. Die Wissenschaftler konnten ein Peptid des Influenza-Nucleoprotein A identifizieren, das Ähnlichkeit mit einem Fragment der ersten extrazellulären Domäne des Hypocretin-Rezeptors 2 hat.

Ein signifikant höherer Prozentsatz der Sera von finnischen HLA-DQB1*0602-Haplotyp-positiven Patienten, die nach Pandemrix-Impfung an Narkolepsie erkrankt waren, enthielten Antikörper gegen den Hypocretin-Rezeptor 2 verglichen mit Kontrollsera von Personen, die nach Infektion mit Influenza A (H1N1) bzw. Impfung mit Focetria nicht an Narkolepsie erkrankt waren. Die Antikörper der Patienten, die nach Impfung mit Pandemrix an Narkolepsie erkrankt waren, reagierten sowohl mit Influenza-Nucleoprotein als auch mit dem Hypocretin-Rezeptor 2. Mithilfe der Massenspektrometrie konnte gezeigt werden, dass Focetria im Vergleich zu Pandemrix 72,7% weniger Influenza-Nucleoprotein enthält. Im Einklang damit steht die Beobachtung, dass in Sera von Kontrollpersonen, die nach Impfung mit Focetria nicht an Narkolepsie erkrankt waren, keine dauerhafte Immunantwort gegen Influenza-Nucleoprotein nachgewiesen werden konnte. Die Unterschiede im Nucleoproteingehalt und der Immunantwort könnten die Assoziation mit Pandemrix erklären.

Weitere Forschung notwendig

Trotz der beachtlichen Fortschritte, die bisher bei der Entschlüsselung des Pathomechanismus erzielt wurden, ist weitere Forschung notwendig, um die molekularen Vorgänge bei der Entwicklung einer Narkolepsie nach Impfung mit Pandemrix aufzuklären.

Regulatorische Maßnahmen

Schon im Juli 2011 gab die Europäische Arzneimittelagentur EMA [29] vor dem Hintergrund der zu diesem Zeitpunkt ermittelten Studienergebnisse aus Finnland und Schweden bekannt, dass sie empfiehlt, den pandemischen Impfstoff Pandemrix bei Personen unter 20 Jahren nur noch dann einzusetzen, wenn ein trivalenter saisonaler Impfstoff nicht zur Verfügung steht. Für Deutschland hat diese Empfehlung aktuell keine Bedeutung, da – wie in der vergangenen Saison – trivalente saisonale Grippeimpfstoffe zur Verfügung stehen und von der Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlen werden.

Hinweis

Zum Thema "Narkolepsie nach Impfung gegen die pandemische Influenza A/H1N1/v" hat das Paul-Ehrlich-Institut in der Ausgabe III/2013 der Fachzeitschrift "Schlaf" einen Übersichtsartikel veröffentlicht [30].

Literatur

  • [1] Occurrence of narcolepsy with cataplexy among children and adolescents in relation to the H1N1 pandemic and Pandemrix vaccinations. Results of a case inventory study by the MPA in Sweden during 2009-2010.
  • [2] Svenska Läkemedelsverket. 26-Mar-2013.
  • [3] Szakacs A, Darin N, Hallbook T. Increased childhood incidence of narcolepsy in western Sweden after H1N1 influenza vaccination. Neurology 2013 Apr 2;80(14):1315-21.
  • [4] Kansallisen narkolepsia - työryhmän loppuraportti. 31-Aug-2011.
  • [5] Association between Pandemrix and narcolepsy confirmed among Finnish children and adolescents. National Institute for Health and Welfare, Finland. 1-Sep-2011.
  • [6] National Narcolepsy Task force Interim Report. National Institute for Health and Welfare, Finland. 31-Jan-2011.
  • [7] Nohynek H, Jokinen J, Partinen M, Vaarala O, Kirjavainen T et al. AS03 adjuvanted AH1N1 vaccine associated with an abrupt increase in the incidence of childhood narcolepsy in Finland. PLOS one 2012; 7(3); e33536. doi:10.1371/journal.phone.0033536

  • [8] THL: Press release 23-May-2013.

  • [9] THL: Press release 18-June-2014
  • [10] National Narcolepsy Study Steering Committee. Investigation of an increase in the incidence of narcolepsy in children and adolescents in 2009 and 2010.

  • [11] Pressemitteilung zum Final Report of the National Narcolepsy Study Steering Committee
  • [12] European Centre for Disease Control and Prevention
  • [13] Wijnans L1, Lecomte C, de Vries C, Weibel D, Sammon C, Hviid A, Svanström H, Mølgaard-Nielsen D, Heijbel H, Dahlström LA, Hallgren J, Sparen P, Jennum P, Mosseveld M, Schuemie M, van der Maas N, Partinen M, Romio S, Trotta F, Santuccio C, Menna A, Plazzi G, Moghadam KK, Ferro S, Lammers GJ, Overeem S, Johansen K, Kramarz P, Bonhoeffer J, Sturkenboom MC. The incidence of narcolepsy in Europe: before, during, and after the influenza A(H1N1)pdm09 pandemic and vaccination campaigns. Vaccine. 2013 Feb 6;31(8):1246-54. doi: 10.1016/j.vaccine.2012.12.015. Epub 2012 Dec 16.
  • [14] Etude NarcoFlu-VF (NarcoFlu VAESCO-France): Grippe, vaccination antigrippale et narcolepsie : contribution française à l’étude cas-témoins européenne. Août 2012. (20/09/2012), Service de pharmacologie (INSERM CIC-P 0005 Pharmaco-Epidémiologie), Université Bordeaux Segalen – CHU de Bordeaux
  • [15] Dauvilliers Y ; Narcoflu-VF study group: Increased risk of narcolepsy in children and adults after pandemic H1N1 vaccination in France. Brain. 2013 Aug;136(Pt 8):2486-96. doi: 10.1093/brain/awt187
  • [16] Miller E, Andrews N, Stellitano L, Stowe J, Winstone AM, Shneerson J, Verity C. Risk of narcolepsy in children receiving an AS03 adjuvanted AH1N1 (2009) influenza vaccine : Retrospective analysis of cases diagnosed by sleep centres in England. BMJ 2013 Feb 26; 346: f794. doi: 10.1136/bmj.f794.
  • [17] Stowe J, Andrews N, Kosky C, Dennis G, Eriksson S, Hall A, Leschziner G, Reading P, Shneerson JM, Donegan K, Miller E. Risk of Narcolepsy after AS03 Adjuvanted Pandemic A/H1N1 2009 Influenza Vaccine in Adults: A Case-Coverage Study in England. Sleep. 2016 May 1;39(5):1051-7. DOI: 10.5665/sleep.5752
  • [18] Heier MS, Gautvik KM, Wannag E, Bronder KH, Midtlyng E, Kamaleri Y, et al. Incidence of narcolepsy in Norwegian children and adolescents after vaccination against H1N1 influenza A. Sleep Med 2013 Jun 14.
  • [19] Berner R et al.: Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in Deutschland (ESPED). Monatsschr Kinderheilk. 2004;152:7779
  • [20] Handwerker G: Narkolepsie im Kindes- und Jugendalter. Monatsschr Kinderheilk. 2005; 2:153
  • [21] Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie; AWMF-Leitlinien-Register Nr. 030/056: "Narkolepsie"
  • [22] Kawashima M et al.: Genomewide Association Analysis of Human Narcolepsy and a New Resistance Gene. Am J Hum Genet. 2006 August; 79(2): 252–263
  • [23] Smith AJ et al.: A functional autoantibody in narcolepsy. Lancet. 2004;364(9451): 2122-2124
  • [24] Fontana A: Narcolepsy: autoimmunity, effector T cell activation due to infection, or T cell independent, major histocompatibility complex class II induced neuronal loss? Brain. 2010;133(Pt 5):1300-1311
  • [25] Longstreth WT et al.: The Epidemiology of Narcolepsy. Sleep. 2007;30:13-26
  • [26] Masoudi S et al.: The adjuvant component α tocopherol triggers via modulation of Nrf2 the expression and turnover of hypocretin in vitro and its implication to the development of narcolepsy. Vaccine. 2014 May 23;32(25):2980-8. doi: 10.1016/j.vaccine.2014.03.085. Epub 2014 Apr 14.
  • [27] Ahmed SS, Volkmuth W, Duca J, Corti L, Pallaoro M, Pezzicoli A, Karle A, Rigat F, Rappuoli R, Narasimhan V, Julkunen I, Vuorela A, Vaarala O, Nohynek H, Pasini FL, Montomoli E, Trombetta C, Adams CM, Rothbard J, Steinman L. Antibodies to influenza nucleoprotein cross-react with human hypocretin receptor 2. Sci Transl Med. 2015 Jul 1;7(294):294ra105. DOI: 10.1126/scitranslmed.aab2354.
  • [28] Ahmed SS, Steinman L (2016): Mechanistic insights into influenza vaccine-associated narcolepsy, Human Vaccines & Immunotherapeutics, DOI: 10.1080/21645515.2016.1171439
  • [29] Empfehlung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA, die Anwendung des pandemischen Impfstoffs Pandemrix bei Personen unter 20 Jahren einzuschränken.
  • [30] Oberle D, Mayer G, Keller-Stanislawski B: Narkolepsie nach Impfung gegen die pandemische Influenza A/H1N1/v?. Schlaf 2013; 2 3:154-160

Aktualisiert: 28.11.2016